Angst vor Berührungen
Für die Betroffenen ist es meist sehr lebenseinschränkend: Sie können die alltäglichsten Dinge nicht mit den Händen berühren, sie ekeln sich vor dem Kontakt mit Gegenständen, Personen oder Tieren. Aus Angst vor Krankheit, Ansteckung, Verschmutzung oder sogar aus Furcht vor dem Tod schaffen es die betroffenen Männer und Frauen nur noch mit enormer Überwindung oder gar nicht, Gegenstände zu berühren oder diese im Alltag zu verwenden.
Eine gewisse Vorsicht und ein gesunder „Respekt“ vor Schmutz, Viren und Bakterien ist bei den Menschen mehr oder weniger vorhanden. Händewaschen nach dem Toilettengang oder nach der S-Bahn-Fahrt (wo man viele Oberflächen berührt hat) sind in der Regel ein übliches Procedere. Harmlose Gedanken oder Handlungen diesbezüglich gehören bei den meisten Menschen mal mehr, mal weniger zum Alltag und können tatsächlich schützen.
Allerdings kann sich dies so entwickeln, dass die vorher harmlosen Gedanken und Handlungen in Bezug auf Dreck, Ansteckung und Reinigung eine extreme Steigerung erfahren – mit der entsprechenden Folge: Die Gedanken und Handlungen sind zeitraubend, zermürbend, beschämend und erzeugen wachsenden Leidensdruck bei den Personen. Die Dinge und Handlungen, die man meint, ausführen oder vermeiden zu müssen, bestimmen zunehmend den eigenen Alltag und schränken das Leben der Betroffenen in weiten Teilen ein.
Beispiele für übertriebene Handlungen aus Angst vor Berührung:
Beispielhaft können folgende Handlungen genannt werden, die die Angst vor Dreck, Krankheit und Ansteckung widerspiegeln: Türklinken und Halterungen nicht mehr berühren oder permanent desinfizieren, sich nicht mehr auf Toiletten setzen, in Geschäften nichts mehr anzufassen, nur noch Selbstgekochtes essen, nur noch abgepackte und sterilisierte Lebensmittel essen, schmutzige Schuhe oder schmutzige Wäsche nur noch mit Handschuhen zu berühren, Vermeidung von Körperkontakt zu anderen Personen, Tragen von Mundschutz in der Öffentlichkeit, extrem häufiges Waschen und Desinfizieren der eigenen Hände und des Körpers, mehrmals tägliche Reinigung von Gegenständen etc. Die Vermeidung und die Angst vor Berührungen anderer Menschen kann ein eigenes Störungsbild sein, sie kann sich aber auch als eine Auswirkung der Angst vor Krankheit und Ansteckung zeigen.
Wenn die Gedanken und Handlungen eine solche Ausprägung erreicht haben, dann leiden die Betroffenen vermutlich unter einer Zwangsstörung: Zwänge sind alles beherrschende Erlebnisse, die vom Betroffenen zwar als unsinnig oder mindestens unangemessen erkannt werden – gegen die sie aber machtlos sind. Die Zwangsstörung tritt letztlich in der gleichen Form auf wie die harmlosen „Alltagszwänge“ der Gesunden, nur mit dem Unterschied, dass sie lebensbestimmend ist.
Zwänge können ein Leben zwischenmenschlich und beruflich ruinieren und bleiben in vielen Fällen sogar unerkannt – selbst von den engsten Angehörigen!
Der Übergang zwischen „nur“ leichten übertriebenen Handlungsmustern (einem s.g. „Spleen“), die sich in Folgen eines Ereignisses entwickeln (und nicht tagtäglich stattfindet – z.B. nach einer Krankheit) und einer tatsächlich krankhaften, behandlungsbedürftigen Zwangsstörung, ist meist schleichend. Wichtig für Betroffene und Angehörige ist auf jeden Fall, dass man sich rechtzeitig Hilfe holt, wenn sich übertriebene Handlungen und Vorgänge wiederholen oder wenn diese bei anderen Personen beobachtet werden!
Wie entsteht die Angst vor Dreck und Ansteckung?
Übertriebene Ängste, extreme Gedanken und Handlungen in Bezug auf Verschmutzung und Krankheit können unterschiedlichen Ursachen haben und entwickeln sich in der Regel schleichend. Sie beginnen meist (nicht immer!) bereits im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter und haben in vielen Fällen einen bestimmten Auslöser.
Auslöser „Krankheit“
Zunächst einmal: Eine phasenweise erhöhte Aufmerksamkeit hinsichtlich Hygiene und Reinigung kann völlig normal sein, wenn wir zum Beispiel längere Zeit unter einer Infektionskrankheit gelitten haben und unter Umständen sehr massiv krank waren. Allerdings kann die Angst vor einer erneuten schweren Krankheit so stark sein, dass Personen aus dieser Angst heraus übertriebene, lebenseinschränkende Handlungen und Vermeidungsstrategien entwickeln. Es könnte sein, dass Menschen nicht mehr in öffentliche Verkehrsmittel steigen oder gar nicht mehr aus dem Haus gehen, dass sie keine Hände mehr schütteln oder fast nichts mehr essen – aus Angst vor Ansteckung.
Auslöser „Überforderung“ und „Konflikte”
Übersteigerte Verhaltensweisen und Ängste können (unbewusst!) dazu dienen, Überforderungen im Alltag oder Belastungen durch familiäre und partnerschaftlich Konflikte zu mildern. Die Psyche des Betroffenen sucht sich dann quasi ein „Ventil“, um andere belastende Dinge nicht so stark spüren zu müssen. Mit dem übersteigerten Verhalten, auf das der Betroffene seine ganze Kraft und Aufmerksamkeit richtet, kann er auf diese Weise bestimmte Problembereiche , inkl. der Forderungen und Vorwürfe von andern Personen an ihn selbst, auf Distanz halten. Wichtig: Diese innerpsychischen Prozesse sind den Betroffenen NICHT bewusst. Die übertriebenen, u.U. lebenseinschränkenden Handlungen dienen der Seele als Kompensation und Ausweg.
Das Gleiche gilt für Gefühle von Resignation, Niedergeschlagenheit und Einsamkeit. Diese mit inneren Konflikten verbundenen Gefühle können durch übertriebene Handlungen, zwanghafte Gedanken und die Aufmerksamkeit auf Vermeidungsstrategien immer wieder kurzfristig reduziert werden. Denn dadurch, dass der Betroffene z.B. darauf achten muss, dass er nichts Schmutziges berührt, fehlt ihm ganz einfach die Zeit und Konzentration für die Auseinandersetzung mit seinen eigenen defizitären Gedanken und belastenden Gefühlen.
Auslöser „Belastende Lebensereignisse“ & Trauma/Gewalt
Belastende Lebensereignisse wie Trennung, Tod oder Scheidung können bei der Entstehung von
Ängsten und Zwängen eine wichtige Rolle spielen. In solchen kritischen Lebensphasen, in der die Struktur des Lebens einzubrechen scheint, möchte ein Betroffener nicht abgelehnt und erst recht nicht angegriffen zu werden. Die Psyche versucht dann sozusagen, durch eine übertriebene Handlung oder Angstgefühle (z.B. Angst vor Dreck) wieder etwas „Ordnung“ und Struktur ins Leben zu bringen.
War die übertriebene Handlung oder Vermeidungsstrategie in der belasteten Lebensphase vielleicht als „Pflasterfunktion“ sinnvoll, so kann sie sich später zu einer dauerhaften Angst und einer dauerhaften übertriebenen Handlung oder einer Zwangsstörung auswachsen. Darüber hinaus liefert die Forschung Hinweise dafür, dass sich hinter einer dauerhaften zwanghaften Handlung nicht selten ein nicht richtig abgeschlossener Trauerprozess verbirgt.
Außerdem gibt es bedeutende Hinweise darauf, dass ein hoher Anteil der Personen, die extreme Handlungen und Vermeidungsstrategien zeigen, ein Trauma erlebten (s.g. Life-Events) oder nach wie vor unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Traumatisch können jegliche körperliche und seelische Gewalterfahrungen (Misshandlung, Missbrauch, Vergewaltigung, Demütigung, Kriegserlebnisse, Überfälle) und seelische Belastungen sein (Trennung, Scheidung, Tod etc.)
Häufig finden sich bei den von Zwangshandlungen Betroffenen auch frühe, traumatische Bindungserfahrungen von Verlust, mangelnder Geborgenheit, Ohnmacht und Demütigung.
Das übertriebene Bedürfnis, Schmutz zu vermeiden, Dinge nicht anzurühren oder sich häufig zu waschen aus Angst vor Krankheit und Ansteckung kann auch ein Ausdruck der Psyche sein – und stellvertretend hierfür stehen, „sich reinzuwaschen“ – von all den Dingen, die die Seele belasten und denen ein Betroffener sonst nicht anders entkommen kann.
Auslöser „Protest“ und „Aggressionen“
Manchmal dienen die übertriebenen Ängste und Handlungen auch als Protestaktion gegen (als übermächtig empfundene) Eltern oder Partner. Die eigenen Ängste, Handlungen und Vermeidungsstrategien werden zur „Gegen-Maßnahme“ und dienen damit indirekt dem Ausdruck von Ärger, Wut, Enttäuschung, Hilflosigkeit. Um es anders zu sagen: Manche übertriebenen, zwanghafte Gedanken und Handlungen scheinen für die Betroffenen wichtige „Hilfsmittel“ zu sein, um scheinbar unbewältigbare Probleme zu lösen, zu verdrängen oder zumindest auf Distanz zu halten. Manchmal dienen auch Wasch- und Reinigungshandlungen der Neutralisation von Aggressionen, wenn alle anderen Bewältigungsstrategien zu versagen drohen.
Weitere Auslöser
Lerntheoretisch sind es vor allem der elterliche, schulische und religiöse Erziehungsstile, die eine extreme Angst vor Dreck und Krankheit entstehen lassen können (Stichwort „Sauberer Körper, saubere Seele – reines Kind“).
Bezüglich der biologischen oder treffender biochemischen Ursachen scheint es sich am ehesten um eine neurobiologische Störung im Zusammenspiel bestimmter Botenstoffe des Gehirns handeln.
Diese Hypothese wird auch durch die Wirksamkeit bestimmter Arzneimittel gestützt. Und schließlich scheint bei Zwangsstörungen sogar eine Vererbung , zumindest aber die Weitergabe einer gewissen Disposition oder „Verwundbarkeit“ (Vulnerabilität) eine Rolle zu spielen oder nicht auszuschließen zu sein.
Therapie der Angst vor Dreck und Krankheit
Grundsätzlich gilt speziell bei dieser Art von Angst und den übertriebenen Handlungen: mehrere Therapieansätze und –module sind erfolgreicher als nur ein einziger!
Bei einer leichten Ausprägung oder noch nicht lange bestehenden übertriebenen, sich wiederholenden Handlungen und Vermeidungsstrategien können die Methoden wingwave und EMDR gekoppelt mit verhaltenstherapeutischen Modulen rasch zu einer Besserung beitragen. Wie und in welcher Art die therapeutischen Module miteinander kombiniert werden, ergibt sich aus dem jeweiligen Einzelfall.
In unserer therapeutischen Praxis innermotion setzen wir die Methoden wingwave und EMDR als Bestandteil eines Gesamtbehandlungsplanes bei übertriebenen Handlungen bzw. Zwangsstörungen ein.
Dabei kommen wingwave und EMDR zum einen bei Problemen der Emotionsregelung zum Einsatz. Denn die übertriebenen Handlungen und Vermeidungsstrategien schützen die Betroffenen aktuell vor schlechten Gefühlen, die wir mit wingwave und EMDR vermindern können und in den therapeutischen Sitzungen bearbeiten.
Die Arbeit mit wingwave und EMDR wird in der Regel als positive Erfahrung und als hilfreich wahrgenommen. Sie unterstützt die biografische Arbeit und die Emotionsarbeit. Sie erleichtert auch die Expositionsarbeit, d.h. sie erleichtert die schrittweise Annäherung an angstauslösende Gedanken und Situationen.
Ein wichtiger Aspekt bei der Behandlung mit wingwave und EMDR ist die Verbindung von kognitiver und emotionaler Herangehensweise: Den „scheußlichen“ Gedanken kann mit wingwave und EMDR ihr Krankheitswert genommen werden. Die Gedanken und Vorstellungen können durch eine andere, gesündere Perspektive ersetzt werden, so dass sie von den Betroffenen nicht mehr als beschämend oder aggressiv erlebt werden. Gleichzeitig findet während des EMDR-Verfahrens auch eine biografische Arbeit statt, in der belastende Emotionen aus der Vergangenheit vermindert oder gar aufgelöst werden können.
Eine Symptom-Minderung, auch und vor allem bei übertriebenen Wasch- und Sauberkeitshandlungen, ist durch wingwave- oder EMDR-Sitzungen ist in vielen Fällen das Ergebnis erfolgreicher Emotionsarbeit!
Erfahrungsgemäß sind wingwave und EMDR auch sehr hilfreich beim Selbstmanagement, das in der Zukunft und vor allem später dazu beitragen soll, in konfliktreichen Situationen und bei den ersten Anzeichen von übertriebenen Handlungen und zwanghaften Reaktionen auf sinnvolle bzw. erlernte Bewältigungsstrategien zurückzugreifen.
Kontaktieren Sie uns! In einem kostenlosen Vorgespräch klären wir mit Ihnen zusammen, ob Ihr Thema für unsere Behandlungsmethoden geeignet ist und in welchem Rahmen wir Sie bei der Heilung unterstützen können.
Das sollte man im Zusammenhang mit Angst vor Berührungen wissen
Leichtere Alltagszwänge oder Spleens sind häufig. Fast jeder kennt sie, amüsiert oder ärgert sich darüber, kann sie aber steuern, neutralisieren oder lernt sie auf andere Weise zu beherrschen.
Übertriebene sich wiederholende, extreme Handlungen hingegen sind alles beherrschende Erlebnisse, die von Betroffenen und Angehörigen als unsinnig oder zumindest unangemessen erkannt und wahrgenommen werden. Wenn dies der Fall ist, dann könnte es sich um behandlungsbedürftige Störungen handeln.
Wenn Sie bei nahestehenden Personen übertriebene Handlungen oder zwanghaftes Verhalten beobachten, können Sie sich die „Spleens“ und zwanghafte Verhaltensmuster in der eigenen Familie anschauen:
Gibt oder gab es ausgewachsene „Spleens“, übertriebene Handlungen oder gar ein zwanghaftes Verhalten in der eigenen Familie, zum Beispiel bei Vater, Mutter, Geschwistern, Großeltern (väterlicher- und mütterlicherseits), bei Onkeln, Tanten u. a.? z.B. Wasch- und Sauberkeitszwang, Angst vor Krankheit, Ordnungs- und Regelspleens?
Gibt es oder gab es zu hohe Ansprüche und Anforderungen an den Betroffenen? Zum Beispiel im Kindesalter hinsichtlich Perfektion, Leistung und Sauberkeit? Welche Rolle spielten die Themen Hygiene, Schutz vor Krankheit, aber auch das Berührungen und Zärtlichkeit in der Familie?
Gibt es oder gab es irgendwelche Belastungen, Konflikte, Überforderungen (z.B. Trennungs-, Tod-, Gewalterfahrungen), die vom Betroffenen als wichtig und belastend interpretiert werden bzw. wurden, während sie den Außenstehenden gar nicht so ernsthaft erscheinen?
Zögern Sie nicht, sich bei Verbänden erste Informationen einzuholen und sich bei Therapeuten zu erkundigen. Je nach Ausprägung und Ursache der übertriebenen Handlungen oder Zwangsstörung sind unterschiedliche therapeutische Interventionen notwendig, die nicht überall und von jeder Praxis angeboten werden.
In unserer Praxis innermotion in München Aschheim klären wir in einem unverbindlichen Vorgespräch, in welchem Rahmen wir Sie bei der Heilung unterstützen können, Ihre Symptome mindern können und ob bei Ihnen eventuell noch weitere Ängste oder psychische Themen eine Rolle spielen (z. B. eine Depression). Kontaktieren Sie uns gerne für ein kostenloses Vorgespräch.